Rolfing, Schauspiel und Theater

In allen Richtungen von Schauspielunterricht (Stanislawski, Meyerhold, Tschechow, Grotowski, Lecoq) wird – wenn auch auf unterschiedliche Weise – den körperlichen Haltungen, Gesten oder Bewegungen eine eigene Kraft im Gestaltungsprozess der Rolle zugeschrieben. Bei allen wird in diesem Zusammenhang die Durchlässigkeit der Körper als eine zentrale Aufgabe gesehen. Lösung von Verspannungen und Fehlhaltungen, Sensibilisierung der Körperwahrnehmung in der Bewegung, Präsenz und Offenheit, die Fähigkeit auf innere und äußere Impulse zu reagieren – all dies sind Fähigkeiten, die erforderlich sind, um der Herausforderung einer bewussten Rollengestaltung gerecht zu werden.

Im Rolfing® arbeitet der Rolfer™ mit dem Künstler zusammen an einer umfassenderen Wahrnehmung einer integrierten Bewegung. Diese Bewusstheit erlaubt SchauspielerInnen Bewegung und Gestik in einer ausbalancierten Art und Weise zu koordinieren, mit Effizienz und mehr Ausdrucksvermögen.

Greta Garbo, Cary Grant, Shirley MacLaine u.a. SchauspielerInnen haben aus dem Rolfing für ihre künstlerische Arbeit und für ihre Gesundheit Nutzen gezogen.

Hans B., ein junger Schauspieler, berichtet über seine Erfahrungen:

„Als Schauspieler bin ich ja von der Körperstellung her sehr oft dem Publikum zugewandt, auch wenn Mitspieler sich neben oder sogar hinter mir befinden. Das geht aber nur, wenn für das Publikum spürbar wird, dass trotz meiner räumlichen Positionierung meine Aufmerksamkeit eben auch sehr stark zur Seite oder nach hinten gerichtet ist. Das ist mir eine Zeitlang sehr schwer gefallen. Rolfing war in diesem Prozess eine große Hilfe, weil ich gelernt habe, mein nach hinten nicht so gut entwickeltes Raumgefühl zu verbessern.“

Bei Melanie W., einer Schauspielschülerin, beförderte Rolfing ebenfalls eine positive Entwicklung. Sie berichtet:

„Rolfing hat mich dabei unterstützt, meine innere Linie zu finden. Und zwar nicht nur auf der körperlichen Ebene, sondern als quasi neutrale Seins-Ebene, die nicht von Affekten und Subjektivität belastet ist. Das gibt mir immer wieder die Möglichkeit, mich von Routinen zu lösen, die mich daran hindern, mich mit der nötigen inneren Freiheit in die Handlungs-Ebene, in Rollen-Persönlichkeiten hineinzuwachsen.“

Der Körper ist immer eine Antwort

ein Interview mit Carlos Repetto (1947-2002)

von Hans Georg Brecklinghaus

Carlos Repetto und Hans Georg Brecklinghaus

Carlos Repetto und Hans Georg Brecklinghaus (1997)

Carlos Repetto wurde 1947 in Argentinien geboren. Studium der Philosophie und Psychologie an der Universität von Buenos Aires. Ausbildung zum Schauspieler bei verschiedenen Regisseuren. Seit 1977 lebte er in Europa und nahm an verschiedenen Festivals in Frankreich, Polen und Spanien teil. 1981 gründete Carlos Repetto eine eigene Schule in Paris, wo eine Forschungsgruppe gebildet wurde. Über die Jahre entwickelte er das „Theater der Gestik und Körpersprache“, eine bestimmte Art des Improvisationstheaters. Seit 1986 lebte er in Freiburg/Deutschland, wo sich die Forschungsarbeit zum Theater der Gestik und des Körpertheaters vertiefte und erweiterte. Er inszenierte verschiedene Stücke in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Carlos Repetto arbeitete in seinen letzten Lebensjahren außerdem als Rolfer. Er ist 2002 gestorben.

Das folgende Interview aus dem Jahr 1997 gibt einen Einblick in Repettos Erfahrungen und die zugrundeliegende Philosophie seines Schaffens.

Hans Georg:

Carlos, kannst Du uns erzählen, wie Du Deine Arbeit entwickelt hast, und was es mit dem „Theater der Gestik“ auf sich hat?“

Carlos:

Eine Bewegung des Körpers ist immer Geste, d.h. eine Folge von Bewegung der menschlichen Aufmerksamkeit

Mein Interesse für das Theater reicht bis in meine Kindheit zurück. Die Eindrücke, welche ich zur Zeit meiner ersten Erfahrungen in der Schule erhalten habe, haben mich sicherlich unauslöschlich geprägt. Theater zu spielen wurde für mich etwas Natürliches.Übrigens bin ich überzeugt, dass der Mensch von Natur aus ein Imitator (mimeur) ist und dass er in den verschiedenen Disziplinen, die mit dem Theater verbunden sind, eine einzigartige Ausdrucksmöglichkeit für sein Wissen von der Welt, sein Wissen der Wirklichkeit wiederfindet. Und dieses Wissen ist in ihm lebendig, in seinem Körper.

Im Jahre 1972 habe ich Alberto Sava, einen argentinischen Mimen getroffen. Ich arbeitete mit ihm und lehrte in seiner Schule. Es war vor allem das Hinterfragen der klassischen Pantomime, was meinen eigenen Forschungsweg bestimmt hat.“

Hans Georg:

Was bedeutet das in Bezug auf den Entwicklungsaspekt von Individuen?“

Carlos:

Seit seiner Geburt verliert das Kind durch das weit geöffnete Fenster seiner Augen hindurch unweigerlich den Kontakt mit seinen pränatalen Wahrnehmungen und tritt vollen Fußes in die Welt des Realen ein, des Realen, welches von ihm selbst unterschieden ist. Diese fortschreitende Entdeckung der Welt lässt in ihm zwei der faszinierendsten Neigungen der menschlichen Natur auftauchen: die Kommunikation und die Imitation. Beide sind auf eine intime Weise miteinander verbunden. Sich der einen als Motor, der anderen als Mittel bedienend, beginnt es – selbst ohne sein Wissen – sein Leben entlang seiner Erfahrungen aufzubauen; und auf diese Weise lernt es.

Die gestische Übertragung, die sich während und durch die Mutter-Kind-Beziehung hindurch vollzieht, geht weit über den familiären Bereich hinaus. Sie ist tatsächlich eine Initiation in die Kultur der Menschheit. Wir alle erhalten während dieser Zeit ein Wissen, das über tausende von Jahren angesammelt und von Generation zu Generation übertragen wurde.

Die Gesten, die Bewegungen und die Handlungen sind die Träger dieser Übertragung/Transmission. Auch und besonders für den Körper sind es Gesten, Bewegungen, Handlungen, durch die er lernt.

Die Basismethode für das menschliche Lernen ist das des Versuchs und Irrtums. Natürlich sind die gelebten Erfahrungen des Einzelnen durch das Gesamte des Charakters, welches ihn ausmacht, geprägt und gestalten so nach und nach seine psychologische Struktur, wobei das Ganze letztlich im sozio-kulturellen Milieu, zu welchem der Einzelne gehört, eingebettet ist.

Dennoch wissen wir sehr wohl, dass unser Gedächtnis begrenzt ist, dass wir uns an sehr weniges erinnern. Aber die Information ist nicht verloren, sie bleibt latent und vergraben in unserem tiefen Inneren.

Die assoziativen Mechanismen, welche die Aktivierung dieser Information leiten, sind der Ausgangspunkt von zahlreichen psychologischen Therapien und Körpertherapien wie Rolfing.

Wir wissen durch Erfahrung, dass eine über den Körper gelernte Tätigkeit, selbst wenn sie über lange Zeit nicht ausgeübt wurde, immer verfügbar ist. Der Körper erinnert sich. Diese Erinnerung des Körpers ist nicht nur das Verfügbarmachen einer Reihe von mehr oder weniger komplexen Bewegungen in einer gegebenen Ordnung, sondern auch das Erwecken einer Gesamtheit von Assoziationen, die den Zusammenhang von Erfahrungen vereinigt, welche mit dem Erlernen und der Praxis der gemeinten Tätigkeit verbunden sind.

Es ist genau diese Fähigkeit, die im Körper schlummert bzw. wacht, welche uns in erster Linie interessiert. Diese Gesamtheit von Erinnerungen ist eine offene Tür für die psychologischen Mechanismen und für ein Wissen, das weiter in das menschliche kreative Potential hineinreicht.“

Hans Georg:

Als Rolfer stelle ich fest, dass der Prozess der Strukturellen Integration für viele Menschen ein hilfreiches Werkzeug ist, um ein kreatives Potential von Körperwahrnehmung und -ausdruck zu entwickeln.“

Carlos:

Beispiel der Aussenwirkung einer bestimmten Körperhaltung. Alles was helfen kann, den Körper und die Spannungen, die ihn ständig bewohnen, mehr zu spüren, ist eine große Hilfe, besonders natürlich auch für einen Schauspieler.

Was das Rolfing speziell betrifft, denke ich, dass es auf praktische Weise sofort und dauerhaft einen Kontakt schaffen kann mit den Erinnerungen haltungsmäßiger Art, die in feinen Beziehungen zwischen unseren körperlichen Segmenten und zwischen unseren Muskeln eingegangen sind.

Was mir wichtig erscheint in meiner eigenen Erfahrung mit dem Rolfing ist dieser Eindruck, den ich nach einer Sitzung habe, eine körperliche Haltung/Bewegung wiederzuerkennen, die vorher vergessen war. Ich empfinde das – offen gesagt – als außergewöhnlich und voll von Möglichkeiten des Lernens.

In meinen Augen ist es ein Beweis der pädagogischen Möglichkeit des Rolfing und zur gleichen Zeit eine Herausforderung für den Klient, es ist eine Forderung sich in den Veränderungs-Prozess einzubringen.

Diesen Eindruck von einer wiedergefunden Haltung, die ich habe, muss begleitet sein von einer aktiven Teilnahme an der Revitalisierung. D.h. in der Reaktivierung der Haltung bin ich eingeladen, aktiv zu werden, und zwar nicht auf eine äußere Art, die ausgeht von einer nur mechanischen Korrektur, sondern ich habe einen inneren Eindruck zur Verfügung, den ich lediglich zu beleben habe.

Diese Form der Beziehung mit dem inneren Eindruck ist in sich selbst kreativ; sie ist es, weil die gewöhnliche Beziehung zu meinem Körper und seinen Haltungen, eine mechanische und unbewusste Beziehung, erschüttert wird. D.h., ich bin gerufen, zu suchen, auf welche Weise ich diese andere Art der Beziehung beleben und aufrechterhalten kann.

Was Menschen betrifft, die eine Rolfing-Behandlung gemacht haben, konnte ich eine relative Veränderung wertschätzen, was die Beziehung mit ihrem eigenen Körper anbetrifft.

Ich glaube, dass eine Haltung direkt in Beziehung steht mit dem Erlebten des Individuums, jede Veränderung der Haltung führt notwendigerweise eine Änderung in den Beziehungsformen der Zusammensetzung (Komposition) der psychologischen Atmosphäre mit sich, in welcher das Individuum ständig badet.“

Hans Georg:

Wo und wann hast Du das erste Mal vom Rolfing gehört?“

Carlos:

Vor Jahren hat mich der Fall eines jungen Mädchens sehr beeindruckt, die in einer Arbeitsgruppe war, welche ich in Basel (Schweiz) geleitet habe. Das Mädchen hatte große Probleme mit ihrer Haltung. Ihr Körper war buchstäblich um sie selbst herum verschlossen. Natürlich war diese Geschlossenheit nicht nur körperlich, sondern war eine Reflexion ihrer inneren Haltung. Sie hatte Beziehungs- und Ausdrucksprobleme. Es gelang ihr nicht, innerhalb der Gruppe zu kommunizieren. Nach einer gewissen Zeit hat sie die Gruppe verlassen.

Zwei Jahre später begann ich eine neue Gruppe in Zürich. Unter den Teilnehmern befand sich die gleiche Person. Wie groß war meine Überraschung, als ich sie sah! Sie war nicht wiederzuerkennen; zunächst physisch, aber auch psychisch. Ihr Körper hatte sich wirklich verändert: ihre Schultern, die vorher schwer beladen waren, fielen locker zur Seite und befreiten dadurch auf natürliche Weise die Brust. Die Veränderungen betrafen auch den Rücken und den Nacken, welche jetzt einen Kopf unterstützten, der in der Kontinuität der Wirbelsäulenachse seinen richtigen Platz hatte. Sie war eine ganz andere Person, zugänglich und ungezwungen, fühlte sich wohl in ihrer Haut. Nach kurzer Zeit wurde sie eine der Fortgeschrittensten und nahm in der Gruppe einen wichtigen Platz ein.

Natürlich habe ich mich für ihre Veränderungen interessiert. Und so habe ich zum ersten Mal vom Rolfing gehört. Sie hat mir sehr lange von ihrer Erfahrung erzählt und mich über die Prinzipien dieser Methode informiert.“

Hans Georg:

Die Körperachsen wahrzunehmen und damit umzugehen ist von essentieller Bedeutung sowohl in Deiner Theaterarbeit als auch in der Rolfing-Praxis.“
Grafik der vertialen Achse um die eine Kopfdrehung stattfindet.

Carlos:

Ja, das ist richtig. Eines der Elemente, das mir wichtig erscheint zu entwickeln, ist das der Achsen. Trotz der charakteristischen aufrechten Haltung – diesem Platz des „homo erectus“ innerhalb der Nomenklatur des Lebendigen – befinden sich die Menschen selten in einer vertikalen Position. Dieser Vertikalität, welche sich allen physikalischen Körpern auf dem Planeten aufdrängt, die den Gesetzen der Schwerkraft unterworfen sind, widersetzt sich der Mensch. Sie ist in Frage gestellt.

Diese Verschiebungen der Achsen bei Menschen sind nicht zufällig, sie sind der äußere Ausdruck von subjektiven Vorzügen in der Wahrnehmung der Umgebung im Moment selbst, wo der Fixierung einer gewohnten Haltung im Körper eine soziale Haltung entspricht, welche mit der Struktur der Persönlichkeit verbunden ist.

Wir haben, insofern wir physikalische Körper sind, ein Schwerkraftszentrum. Dieses ist jedoch nicht bei allen Menschen am selben Ort. Wo es sich individuell befindet, hängt von verschiedenen Faktoren ab: von dem Gesamten der Spannungen, mit denen wir unsere Körperhaltung aufrechterhalten, von der von der Schwerkraftachse abweichenden Neigung der Körperachse, von Volumen und Dichte unserer Körpermasse, und von etwas, was sehr schwierig einzuschätzen und zu definieren ist, was verbunden ist mit der Beziehung, die jeder von uns mit der äußeren und der inneren Welt hat.

Die Haltungen sind meiner Meinung nach der größte Spiegel des vom Einzelnen Gelebten. Das Leben formt und modelliert den Körper auf sehr subtile Art und Weise. In jedweder Position, in der sich ein Körper befindet, wird er immer durchzogen durch eine vertikale Linie. Für mich ist diese Linie die Repräsentation des Jetzt, die horizontal verlaufenden Achsen sind diejenigen der Aktion. Ob er will oder nicht zentrifugiert der Mensch seine Aktionen, er ist ständig in das Außen geworfen. Die horizontalen Achsen sind die Vektoren dieser Dynamik. Ich glaube in der Tat, dass die Vertikale die Achse des Seins ist: es ist jetzt, dass ich bin.

Bild der Butoh-Tänzerin Anzu Furukawa aus Japan

Anzu Furukawa(Butoh-Tänzerin, Japan)

Leider projiziert sich der Mensch in die Sphäre des Machens, d.h. er verliert allzu oft den Kontakt mit der Sphäre des Seins.

Diese Projektion ist nicht nur psychologisch, sie ist materiell. Diese Atmosphäre, die den Menschen umgibt, fixiert eine Grundhaltung. Diese wird nach und nach zu seiner Körperstruktur und zur Form seines ganzen Ausdrucks und seiner Manifestation. Hier sind wir mitten im Zentrum der alten Problematik der Kommunikation und des Ausdrucks des menschlichen Wesens. Der Mensch drückt aus und kommuniziert etwas, das er nicht spürt. Wenn wir sagen, dass er sich in die Sphäre des Machens projiziert, während er den Kontakt mit der Sphäre des Seins verliert, so ist das auch materiell-physisch und sehr real. Es ist das Wesen, was projiziert ist, es gibt keinen Handelnden mehr, der Mensch ist vermischt mit seiner Handlung, er ist seine Handlung.

Dieser Mangel an Distanz zwischen dem Handelnden und der Handlung ist vor allem ein Mangel des Kontakts mit sich selbst. Die Abwesenheit der Wahrnehmung von sich selbst steht am Anfang der Schwierigkeit, zu kommunizieren.

Der menschliche Ausdruck ist – wenn man es von diesem Standpunkt aus betrachtet – die Kommunikation mit einer Wahrnehmung der Vergangenheit oder mit einer Manifestation von Bedürfnissen/Wünschen nach etwas oder einem Warten auf etwas, was in der Zukunft liegt. Das wichtigste Kennzeichen des Ausdrucks ist, dass es ihm an Aktualität fehlt. Im gegenwärtigen Moment selbst spürt sich das Individuum nicht und spürt nicht, dass es sich nicht spürt.

Es ist in diesem Sinne, wenn ich sage, dass die Vertikalität des Menschen kompromittiert, in Frage gestellt ist. Eine Studie der Haltungen ist sehr lehrreich diesbezüglich, und es scheint mir notwendig, unser Wissen auf diesem Gebiet zu vertiefen. Das ist genau das, was wir in unseren Arbeitsgruppen tun. Zwei Personen in Beziehung sind zwei Achsen in Beziehung zueinander. Und eine wirkliche Beziehung kann nur von Achse zu Achse entstehen.

Es ist vielleicht einfacher sich die Bedeutung des Schwerkraftzentrums für einen Tänzer vorzustellen – die Qualität seiner Dynamik hängt davon ab – aber auch für einen Schauspieler ist es wesentlich. Der Geschmack von der Authentizität seiner Geste und seines Ausdrucks sind auf intime Weise mit der richtigen Position seines Schwerkraftzentrums verbunden.

Man kann sagen, dass es immer zwei gegenwärtige Kräfte gibt: eine ist verbunden mit der Vertikalität der Schwerkraft und dem Sein, die andere ist verbunden mit dem Wollen der Handlung und dem Tun. Für einen Schauspieler ist es wichtig, zumindest annäherungsweise beide Kräfte zu spüren. Ohne diese Wahrnehmung wird seine Handlung äußerlich und karikaturistisch.“

Hans Georg:

Die Aufmerksamkeit des Schauspielers für seine eigene Körperstruktur und für die seiner Mitspieler ist also sehr wesentlich in deiner Arbeit. Aus dem, was Du sagst, geht auch hervor, wie schwierig es ist, bei sich die Aufmerksamkeit als Mittel der Wahrnehmung zu entwickeln.“

Carlos:

Ja, es ist ein schwieriges Thema. Deshalb muss ich an dieser Stelle ein wenig ausholen. Der Körper ist aktiv hörend auf das Äußere und auf das Innere. Wenn ich gegenüber irgendwelchen Situationen bin – und ich bin immer in einer Situation -, nimmt mein Körper aktiv an der Wahrnehmung teil. Er sendet mir ständig Signale, wie das Gesamte meiner psychologischen Struktur auf die in Frage stehende Situation reagiert. Dieser Prozess ist komplex. Der Körper ist der Ort, er ist Sitz einer bestimmten Manifestation des Lebendigen. Im selben Moment ist die gesamte gelernte Information, das Gelebte, das genetische Erbe – alles ist verfügbar und benutzbar, einsatzbereit.

Aber leider gibt es ein Problem: Der Mensch kann sich nicht seiner Aufmerksamkeit bedienen, weil sie schwach, zerstreut und im allgemeinen peripher ist. Das ist die menschliche Kondition. Wenn ich näher hinschaue, ist das, was ich tatsächlich sehe, sehr wenig. Wenn man mich jetzt unverhofft fragen würde, was ich von mir wahrnehme, wäre ich sehr verlegen zu antworten. Im Allgemeinen ist die Selbstwahrnehmung begrenzt durch das Interesse des Moments. Dieses Interesse kann nach außen oder innen projiziert sein, das hat keine Bedeutung: In keinem Fall habe ich eine globale Wahrnehmung von mir. Und vor allem bin ich selber nicht beinhaltet in der Wahrnehmung, während ich wahrnehme.

Meiner Meinung nach ist diese letzte Wahrnehmung die interessanteste, weil ich in diesem Moment zum Objekt des Blickes werde. Und auf diese Weise kann ich von meinen Manifestationen lernen. Ich bin derjenige, der schaut und derjenige, der gesehen wird. Natürlich ist dies alles sehr schwierig und nur langsam zu erreichen. Aber ich finde, es ist wichtig zu verstehen, welche Bedeutung mein Körper und das, was er mich lehren kann, in einer Ausdrucks- und Kommunikationsarbeit besitzt.

Ein sehr einfaches Beispiel: Ich betrachte ein Objekt. Im allgemeinen ist meine Beziehung mit dem Objekt derart, dass ich meistens nicht dabei sehe, was das Objekt umgibt. Schon gar nicht nehme ich mich selber wahr, das Objekt betrachtend. Was ich sagen will, ist, dass ich nicht sensibel gegenüber meiner Sensibilität des Sehens bin. Ich sehe nur- das Objekt.

Ich glaube, dass es wichtig ist zu erinnern, dass die Arbeit, die ich in meinen Kursen entwickle, nicht die Absicht hat, irgendeine Veränderung herbeizuführen. Ihr Ziel ist nicht therapeutisch. Der Körper, der uns interessiert, ist der, der ist, nicht ein Modell, das zu erreichen wäre.

Ein Schauspieler ist ständig damit konfrontiert, verschiedene Personen – verschiedenen Alters und verschiedener Kulturen – zu spielen. Was für einen Schauspieler interessant ist, ist die Möglichkeit, das in seinem Körpergedächtnis angesammelte Wissen zu benützen, um eine Rolle besser verstehen und ausfüllen zu können.

Bild eines Kleinkindes, dass die Körperhaltung seiner Bezugspersonen vollkommen spiegelt. In diesem Sinne erscheint das Wissen um körperliche Strukturen und seine eigene Struktur wesentlich. Eine Körperhaltung ist eine Konsequenz. Sie ist fixiert im Körper durch eine Vielfalt an Faktoren, und durch ihre Wiederholung kann sie zur Gewohnheit werden. Diese Fixierung im Körper ist begleitet von komplexen Manifestationen, welche mit der Psychologie des Individuums zusammenhängen.

Man könnte sagen, dass jede Haltung (posture) mit einem bestimmten Klima korrespondiert. Wenn die Haltung einmal dem Körper bekannt ist, geht der Weg hin und zurück. Das Klima ruft die Haltung hervor und vice versa. Dieser Punkt ist hochinteressant vom Standpunkt des Ausdrucks her gesehen. Wenn ein Schauspieler sich an eine Haltung annähern kann, nicht auf eine periphere oder karikaturistische, sondern auf eine strukturelle Weise erhält er im Moment selbst die Information über das entsprechende Klima. Das bedeutet ein direktes Wissen der psychologischen Aspekte, die das Klima und die Haltung begleiten.

In gewisser Weise besteht die Anforderung nicht darin, eine Personage zu „machen“, sondern seinen eigenen Körper zu verleihen, sodass er verfügbar sein kann für eine andere Form als die seine.

Diese Transformation ist möglich, weil der Mensch essentiell ein Imitator ist. Diese Fähigkeit zu imitieren ist enorm, und ich glaube, dass sie sehr viel weiter geht als ein Mimen – mehr oder weniger gelungen – einer körperlichen Haltung. Der Mensch imitiert alles, er kann sich modellieren. Er kann sich – selbst ohne sein Wissen – nach Denkmodellen, nach Lebensformen etc. modellieren. Man sieht die Wirkung von Mode, Propaganda, Werbung etc. Sicher gibt es psychologische Gründe – Identifikations-, Persönlichkeitsprobleme etc. Aber die Psychologie würde nicht ausreichen, wenn es diese Kapazität des Mimens und Spielens nicht gäbe. Es ist faszinierend, den Imitator im Kind zu sehen. Man spürt wohl, dass dahinter mehr als ein Spiel steckt: das Kind informiert sich, es lernt.“

Hans Georg:

Welche Bedeutung hat für Dich der Raum, in dem ein Tänzer oder Schauspieler sich bewegt?“

Carlos:

Die erste Beziehung, die ein Mensch hat, ist die räumliche Beziehung, alles geschieht in einem gegebenen Raum. Diese Variable, der Raum, bedingt auf eine subtile Weise alles, was das Individuum in einer Situation macht.

Die Abfolge von Bewegungen und Gesten webt ein unsichtbares Raster im Raum, wo sich die Menschen zufälligerweise begegnen. Sie kreuzen sich, sie gehen gemeinsam, vor oder hinter dem anderen etc. Diese Art, den Raum zu benutzen erlaubt es den Leuten, ständig in einer klaren räumlichen Beziehung zu sein: vor, hinter, neben, weit bzw. nah entfernt etc.

Es ist offensichtlich, dass ich die meiste Zeit im Leben keinerlei Vorstellung davon habe, wo ich mich – räumlich gesprochen – befinde. Natürlich weiß ich, warum ich da bin, wenigstens im allgemeinen; aber ich habe keine Wahrnehmung über meine Position im Raum. Alles wird bezogen auf das Interesse, das ich habe, und welches mich wahrscheinlich zu dieser Stelle geführt hat. Eventuell könnte ich mich in Bezug auf das Zentrum meines Interesses platzieren: „…Ich war vor ihr, und ihr Freund kam von rechts, ich entfernte mich nach links…“ Das Beispiel erzählt von einer alltäglichen Handlung. Aber sehr wahrscheinlich war dem Erzähler im selben Moment auf der ersten Ebene der Aufmerksamkeit nichts präsent, was sich auf seine räumliche Position bezieht.

Schauspieler müssen sich sensibilisieren sich für die Stellungen im Raum, lernen, sich an einem bestimmten Ort zu spüren und dieser räumlichen Position Bedeutung zu geben.

In dieser Öffnung zum Raum hin kann der Schauspieler den Wert seiner Aktion besser verstehen und deren Wichtigkeit für die Wahrnehmung der Gesamtheit des Außen durch die Zuschauer.

Vielleicht sollte man ein bisschen über die Wahrnehmung des Außen sprechen. Es gibt die Wahrnehmung der Zuschauer, aber es gibt auch die Wahrnehmung des Schauspielers von sich selbst. Zwischen diesen beiden Wahrnehmungen gibt es notwendigerweise einen Unterschied, da sie beide an eine wahrnehmende Subjektivität gebunden sind.

Ohne ins Detail zu gehen könnte man sagen, dass eine Arbeit an der Kommunikation eine Arbeit an der Verminderung dieser Differenz ist.“

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